Muss man eigentlich Pessimist*in sein, um Expert*in zu sein? Gerade in dieser Krisenzeit könnte man es meinen. Und ich meine nicht Menschen wie Professor Drosten, die sinnvollerweise mit Worst Case Szenarien rechnen. Sondern Journalist*innen, Podcaster*innen und andere Medienpersönlichkeiten, die mit einer neutralen oder postiven Einstellung wirklich keinem schaden würden. 

Die Negativität in den Sozialen Medien und vor allem auf Twitter macht mich gerade wütend. Das ist schlecht, denn es führt dazu, dass ich dort in Diskussionen einsteige, die ich eigentlich weder mir, noch jemand anderem ans Bein binden möchte. Diskussionen, die vor Negativität nur so strotzen und wirklich keinem weiterhelfen. 

So geht es aber nicht nur mir, sondern vielen Menschen. Das führt dazu, dass mit negativen, schwarzseherischen Posts große Reichweite und viel Interaktion zu erzielen ist. Also werden Untergangsszenarien heraufbeschworen, Menschen verteufelt und Fussballvereine in den sicheren Abstieg geschrieben – einzig um im entsprechenden Ressort Reichweite zu generieren und sich als Experte oder Expertin zu positionieren.

Doch warum funktioniert das? Warum lieben wir diese Grübeltäter*innen, die unsere negativsten Befürchtungen bestätigen? Warum erscheinen Menschen uns als kompetenter, wenn sie vom Negativen ausgehen und ist es wirklich sinnvoll, sich in den Sozialen Medien als Nostradamus zu positionieren?

DIE EVOLUTION MAL WIEDER

Unsere Leidenschaft für dunkle Prophezeiungen ist ein evolutionäres Überbleibsel: Unser Hirn ist nicht dafür konzipiert, uns glücklich zu machen, sondern dafür, unser Überleben zu sichern. Wer alle möglichen schrecklichen Enden vorausahnt und sich darauf vorbereitet, hat bessere Chancen, sie zu überleben. Also ist jemand, der vor diesen schrecklichen Enden warnt und uns vorgeblich hilft, uns darauf vorzubereiten, hilfreich beim Überleben. Menschen, die positiv denken und immer vom Guten ausgehen, sehen wir leicht als naiv oder verblendet.

Ein weiterer psychologischer Effekt einer pessimistischen Grundeinstellung ist Motivation. Psychologieprofessorin Gabriele Oettingen fand heraus: Wenn wir uns ein positives Ereignis ausmalen, glaubt ein Teil unseres Gehirns, wir wären bereits am Ende des Weges angekommen. Die Motivation sinkt, wir strengen uns weniger an. 

Beides sind Effekte, die du in den Sozialen Medien nutzen kannst, um deine Leser und damit deine Ziele zu erreichen. Die Frage ist: Ist es sinnvoll? Hilft es?

DIE SACHE MIT DER NEUTRALITÄT

Bleiben wir für einen Moment bei den Fussballmannschaften. Sie sind eines meiner liebsten Beispiele, denn es wird kaum irgendwo kontroverser und mit mehr Leidenschaft diskutiert. Eine entsprechende Medienberichterstattung kann hier schnell Nerven, Geld und Jobs kosten. Aber weil Fußball für Fans und die breite Gesellschaft eben nur Freizeitvergnügen ist, wird das oftmals zu leicht genommen. 

Ist man als Journalist*in, Blogger*in oder Podcaster*in mit einer gewissen Reichweite ausgestattet und als Expert*in positioniert, ist es sehr einfach, sich mit Untergangsszenarien hervorzutun. Treten sie ein, sagt man „Ich hab’s doch gesagt!“ und bekräftigt damit die eigene Expertenrolle. Treten sie nicht ein, interessiert in der kollektiven Freude keinen das Geschwätz von gestern. Das gibt richtig viel Reichweite und Interaktion, hat aber mit journalistischer Neutralität nichts zu tun.

JOURNALIST*IN ODER INFLUENCER*IN?

Dass eine solche Schwarzseherei nicht nur eine Meinung abbildet, sondern bei einer gewissen Reichweite auch Meinungen macht, fällt dabei oft unter den Tisch. Sagst du als Journalist*in „Wir müssen den Trainer feuern!“ oder „Wir steigen sowieso ab!“, glaubt ein Teil deiner Leser*innen dir das unbesehen. Ein weiterer Teil beginnt, in der eigenen Meinung unsicher zu werden. Und einige trauen sich vielleicht auch nicht mehr, ihre Meinung zu äußern. Dabei kannst du als Journalist*in da auch nur spekulieren – den Einblick, so etwas wirklich beurteilen zu können, hast du niemals. Du opferst die gebotene Neutralität deiner Reichweite und deinem angeblichen Expertenstatus. 

Und bevor du jetzt sagst „Aber Solveig, Fußball interessiert mich null!“: Dieses Beispiel lässt sich vom Fussball auf alle anderen Lebensbereiche übertragen. Negative Prognosen und Schwarzseherei werden von den Mechanismen unseres Gehirns gerne angenommen und hochwertig eingeordnet. Das müssen wir als Journalist*innen in Kauf nehmen beziehungsweise entsprechend einordnen, wenn es um wichtige Dinge geht. Schreiben wir etwa über die schlimmstmöglichen Auswirkungen der Coronakrise, helfen wir dabei, Maßnahmen zu erklären und für Verständnis in der Bevölkerung zu sorgen. 

Behaupten wir, ein Fußballverein sei dem sicheren Abstieg geweiht, wenn nicht dies oder jenes passiert, ist das reine Spekulation, die keinem hilft. Wir müssen uns also vor jeder entsprechenden Veröffentlichung fragen, ob sie wirklich jemandem weiter bringt, oder nur unserem Ego oder der Reichweite auf Instagram dient.